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Trobadors und Trouvères

aus:

Mittelalter,

hg. v. Ulrich Mölk, Tübingen: Stauffenburg 2008 (Stauffenburg Interpretation), 73-94.

(Aktualisierte Version)

 

Bei der Trobadorlyrik handelt es sich anerkanntermaßen um ein die gesamte abendländische Liebeslyrik bis heute prägendes Phänomen, während die Lyrik der Trouvères noch allzu oft als reines Epigonentum hinter ihr zu verblassen droht. Einer Einführung in das hochkomplexe System der Trobadorlyrik folgt daher ein Plädoyer für die Eigenständigkeit der Trouvèrelyrik. Dabei sind zwei Hauptfragen vorrangig zu klären: Wie geht die eine aus der anderen hervor? Und wodurch unterscheidet sich die eine von der anderen? Diese Fragen sollen an zwei cha­rak­teristischen Beispielen geklärt werden. Das erste führt an den Hof der Grafen der Champagne als einem der zentralen Verteilerhöfe der Trobadorlyrik in Nordfrankreich, während das zweite die Entwicklung eines zentralen Motivs der Trobadorlyrik – die Liebe zur fernen Geliebten – von ihrem Ursprungsland Okzitanien nach Nordfrankreich verfolgen wird.

  

Die Strahlkraft der Trobadorlyrik und die Genese der Trouvèredichtung

  

Einer Exposition der europäischen Strahlkraft der Trobadors folgt ein Einblick in den historischen Hintergrund, vor dem die Kinder Aliénors d’Aquitaine und insbesondere Marie de Champagne und ihr Halbbruder Richard Löwenherz agieren. Danach wird es kurz um das literarische und kulturelle Vermächtnis gehen, das Aliénor d’Aquitaine auf ihre Nachkom­menschaft und von dort ausstrahlend auf die Trouvères überträgt. Der Abschluss dieses Teils wird sich dann genauer mit dem kulturellen Erbe dieser beiden Kinder der „Königin der Tro­badors“, Richard Löwenherz und Marie de Champagne, sowie deren Hof auseinandersetzen.

Die Strahlkraft der Trobadors und deren Ausstrahlung auf die nordfranzösischen Kollegen, die Trouvères, im Besonderen und die gesamte europäische Liebeslyrik im Allgemeinen ist noch nicht bis in alle Einzelheiten erforscht. Die Wege der Verbreitung der Trobadorlyrik verlieren sich oft im Dunkel der Geschichte und uns bleibt, ihnen nachzugehen, meist nur der Blick auf die regen interkulturellen Beziehungen im Mittelalter, die bereits Friedrich Diez erahnt, als er über die Poesie der Trobadors 1883 schreibt: „Die Dichter stehen in sichtlicher Berührung unter sich im Leben wie in der Kunst, beziehungsvolle Fäden schlingen sich durch ihre Werke“ (Diez: 1883, XII). Wesentliche Schritte hin zu deren Entwirrung verdanken wir den seit den achtziger Jahren u. a. von Jörn Gruber entwickelten Konzepten der Intertextualität und der intertextuellen Aufhebung.

Erste Schritte zur Bewusstmachung der Literaturbeziehungen zwischen Okzitanien und Nordfrankreich, ja dem übrigen Europa, macht 1988 dann Pierre Bec mit einer allerdings erst 1994 veröffentlichten literaturgeschichtlichen Studie zur Genese der europäischen Lyrik, „La poésie des troubadours et la genèse de la lyrique européenne “. Inzwischen ist die interkulturelle Vernetzung der Trobadorlyrik so weit ins Bewusstsein der Okzitanistik vorgedrungen, dass ihr selbst in den einschlägigen Handbüchern wie dem von Ron Akehurst herausgegebenen Handbook of the Troubadours von 1995 breiter Raum gegeben wird.

Erst die Kombination beider Ansätze, des intertextuellen und des historischen, die Ausweitung der Erforschung intertextueller Literaturbeziehungen unter Trobadors auf interkulturelle Beziehungen und die systematische Auswertung intertextueller Beziehungen auf dieser Ebene aber verspricht neue Erkenntnisse im Hinblick auf die Erforschung von Art und Umfang solcher Literaturbeziehungen im europäischen Mittelalter.

Die Wellentheorie, nach der sich die Trobadorlyrik von Okzitanien aus über Nordfrankreich und Flandern, über Burgund und Elsass-Lothringen, oder aber von der Provence ausgehend über die Schweiz und Süddeutschland verbreitet haben soll, ist nämlich – und das nicht nur aus Gründen der Chronologie, auf die ich gleich noch kurz eingehen werde, – ebenso ergän­zungsbedürftig wie die Theorie, nach der die Minnesänger selbst die Trobadordichtung aus Norditalien mitbringen, und wie der Verweis auf den gemeinsamen geistigen Hintergrund, die in der Tradition von Ernst Robert Curtius gern beschworene „unité sprirituelle de l’Europe“, vor der sich die einzelnen Spielarten der frühen europäischen Lyrik entwickeln.

Als komplementäres Modell ziehe ich daher, Friedrich Diez’ „beziehungsreiche Fäden“ fort­spinnend, die Einbeziehung jenes Phänomens vor, das von Anbeginn fest in der Trobadorlyrik verankert ist: das Modell des engmaschigen Netzes, das den Literaturbetrieb der Trobadors umspannt, wo jeder jeden kennt und vor allem aber jeder jeden zitiert. Dieses von allen Vertretern des okzitanischen Kulturbetriebes – ob Mäzene, Dichter oder Spielleute – gepflegte Netz, dessen Existenz sich auf der Textebene durch unzählige intertextuelle Beziehungen nachweisen lässt, braucht praktisch nur auf die französischen ‚Kollegen’ ausgeweitet zu werden, sobald sich – zum Beispiel während der Kreuzzüge – Gelegenheit dazu bietet.

Den chronologischen Rahmen dafür liefern – das gesamte zwölfte Jahrhundert als wesentliche Entstehungszeit der europäischen Liebeslyrik umspannend – der erste (1096-1099) und der vierte Kreuzzug(1202-1204). Am Ende des ersten Kreuzzugs – auch der weiter unten mit einem Lied zitierte erste überlieferte Trobador, Wilhelm IX. von Aquitanien, war daran beteiligt – gibt es die Trobadorlyrik schon. Sicher bringt sie wesentliche Impulse aus dem Orient mit, aber auch Kontakte nordfranzösischer Rezipienten mit ihr sind bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zumindest sehr wahrscheinlich. Während des zweiten Kreuzzugs (1147-1149), der nahezu den gesamten europäischen Hochadel samt Gefolge – Hofdichter und -musikanten eingeschlossen – versammelt, sind die Bedingungen für einen regen internationalen Kulturaustausch sogar noch günstiger: Die Kunst des Trobar ist auf ihrem Höhepunkt angelangt, während aus dieser Zeit gerade die ersten Lieder des Minnesangs überliefert sind. Für den dritten Kreuzzug (1189-1192) spielt dann Richard Löwenherz, der Enkel Wilhelms von Aquitanien, eine bedeutende Rolle. Während die Trobadorlyrik ihren klassischen Scheitelpunkt bereits überschritten hat, sind aus dieser Zeit die ersten Trouvère-Lieder überliefert. Aber erst auf dem vierten Kreuzzug (1202-1204) können sich mithin etablierte Vertreter aller drei Kunstrichtungen begegnen und gleichberechtigt austauschen.

Doch der gemeinsame Weg, den alle Kreuzzugsteilnehmer in Richtung auf Jerusalem früher oder später nehmen müssen, bietet auch zuvor schon genügend Gelegenheit für den Austausch unter okzitanischen, französischen und deutschsprachigen Sängern, Musikern und Spielleuten. Im Gegensatz zu gängigen Lehrmeinungen über die geringe Bedeutung der Kreuzzüge für die Verbreitung der Trobadorlyrik bin ich daher der Meinung, dass gerade das „Singen auf dem Kreuzzug“ (A. Rieger: 2000a) den Trobadors die einmalige Chance einer raschen internationalen Verbreitung ihrer Lieder bietet. Man darf sich diese über lange Zeiträume unter schwierigsten Bedingungen zusammengepferchten Reisegesellschaften nur nicht als Trauerzug vorstellen oder sie aus der Perspektive unserer modernen Mediengesellschaft betrachten: Auf den einzelnen Etappen verfügen sie nicht nur über sehr viel Zeit, sondern ist auch die Unterhaltung durch Spielleute, Sänger und Musiker – neben dem persönlichen Gespräch oder diversen ebenfalls überliefertermaßen beliebten Spielen und noch frivoleren Zerstreuungen – der einzige verfügbare Zeitvertreib.

Dabei wird sich die Begegnung zwischen den musischen Vertretern der einzelnen Gruppierungen dort abgespielt haben, wo man sich an langen Abenden und während langer Wartezeiten zusammenfindet; und es werden nicht nur künstlerische Erfahrungen ausgetauscht, sondern es wird auch gemeinsam musiziert und gesungen, gedichtet und komponiert, wobei sprachliche Barrieren dabei kein unüberwindliches Hindernis darstellen. Fragt man sich dennoch nach einer möglichen gemeinsamen Kommunikationssprache unter Trobadors und Trouvères, bietet sich das in ganz Europa weit verbreitete Lateinische ebenso an wie das selbst im deutschen Sprachraum durchaus gepflegte Nordfranzösische, die so genannte langue d’oïl („oïl“ ist das altfranzösische Wort für „ja“); und sogar die zur Abgrenzung davon als langue d’oc („oc“ ist das altokzitanische Wort für „ja“) bezeichnete Sprache der Trobadors, das als verbindliche Literatursprache, als koiné, etablierte Okzitanische lässt sich ebenso wenig ganz ausschließen wie das an den norditalienischen Höfen von den dort niedergelassenen Trobadors zweifelsohne beherrschte Italienische.

Dieses trobadoreske Netzwerk erschließt sich durch die Analyse der dichterischen Beziehungen zwischen Trobadors und Trouvères im folgenden Überblick über die Kulturbeziehungen am Hof der Töchter Aliénors d’Aquitaine und unter ihnen besonders Maries de Champagne. Bei der Erforschung der Verbreitungswege der Trobadorlyrik hat man sich verständlicherweise zunächst auf den naheliegendsten verlegt: den der direkten Übertragung durch die Trobadors selbst, wie sie zum Beispiel in Katalonien, Kastilien und Aragon, aber auch in Norditalien sicher die Regel war. Sobald es um Portugal, Nordfrankreich oder den deutschsprachigen Raum geht, sind die diesbezüglichen Ergebnisse jedoch so mager, dass nach neuen Wegen gesucht werden muss: Keine einzige Reise eines Trobadors an den portugiesischen Hof ist in deren vidas und razos überliefert; und nur Richard Löwenherz bereist – unter den bekannten, inzwischen zur Legende gewordenen abenteuerlichen Umständen – erwiesenermaßen das Land der Minnesänger.

Selbst die direkten Kontakte mit Nordfrankreich scheinen eher spärlich gewesen zu sein. Nur wenige Trobadors finden den Weg an die nordfranzösischen Höfe; und falls doch, lan­den sie ausnahmslos an jenen, die von Aliénor d’Aquitaine oder deren Kindern beherrscht wurden. Da die Mobilität der Trouvères kaum größer scheint, sieht sich Pierre Bec, um beide überhaupt irgendwie zusammenzubringen, gezwungen, diese Begegnung an diese Höfe und „sur les routes de pèlerinage“ (Bec: 1994, 18) – auf die großen Pilgerwege – zu verlegen.

  

Im Kulturkreis Aliénors d’Aquitaine

  

In der Folge wird jenen Spuren nachgegangen, die an den Hof Maries de Champagne führen. Insbesondere Marie de Champagne selbst und ihr Mann Henri spielten nämlich bei der Verbreitung der Trobadorlyrik und der Herausbildung ihres Pendants, der Trouvèrelyrik, eine herausragende Rolle. Als Beispiele habe ich Lieder von vier Lyrikern ausgewählt, deren dichterische Beziehungen vom Hof der Grafen von Poitiers zu jenem der Grafen der Champagne führen: Wilhelm IX. von Aquitanien, Bernart de Ventadorn, Chrétien de Troyes und Conon de Béthune. Eingangs möchte ich die historischen und literarischen Bedingungen dieser Literaturbeziehungen kurz skizzieren.

Chronologisch bewegen wir uns dabei ungefähr zwischen der ersten Hochzeit Aliénors d’Aquitaine 1137 und dem Tod ihrer Tochter Marie de Champagne 1198. Die berühmte „Königin der Trobadors“ selbst hat zum Beispiel, gemessen an den von ihr auf Reisen zurückgelegten Kilometern, mehrfach den Globus umrundet und ganz Europa bereist. Diese Reisen führen sie auf dem zweiten Kreuzzug (1145/46) mit ihrem ersten Mann, dem französischen König Ludwig VII., bis nach Antiochia. Unterwegs bemüht sie sich dabei stets, ihrer Rolle als Mäzenin und Beschützerin der Trobadors gerecht zu werden; und meist wird sie von einem ganzen Tross von Dichtern und Musikern begleitet.

Damit pflegt sie auch das Vermächtnis ihres anlässlich des ersten Kreuzzugs bereits kurz erwähnten berühmten dichtenden Großvaters, Wilhelm von Aquitanien, den man gern den ‚ersten Trobador’ nennt. Schon nach der Eroberung Jerusalems (1099) bleibt er noch über sechs Monate in Antiochia, wo er sich mit der fremden Kultur vertraut macht und auch selbst dichtet; als er nämlich endlich heimkehrt, bringt er nicht nur ein arabisches Orchester mit an den Hof von Poitiers, sondern auch ein ganz neues Repertoire an Liedern. Lieder, die zwar heute verloren sind, von denen aber sein Chronist Orderic Vital berichtet, er habe sie mit großem Erfolg der Crème de la crème seiner Zeitgenossen vorgetragen (Boutière et al., 585).

Zwischen dem zweiten und dem dritten Kreuzzug schließlich findet der Generationswechsel zu den Familien der Kinder Aliénors d’Aquitaine statt. Ihre Tochter Marie de Champagne bleibt als Regentin zurück, als ihr Mann Henri das Kreuz zum zweiten Mal nimmt. Er überlässt ihrer Obhut einen glanzvollen Hof, an dem die erste Riege der ersten Trouvère-Generation, unter ihnen zum Beispiel Conon de Béthune, ihre Lieder dichtet. Richard Löwenherz, der Sohn Aliénors d’Aquitaine aus zweiter Ehe, der die Verpflichtung zur Teilnahme quasi von seinem verstorbenen Vater, Henri Plantagenet, ‚geerbt’ hat, gerät auf dem Rückweg für über ein Jahr in Gefangenschaft im Reich der Minnesänger. Und während des vierten Kreuzzugs wird der bereits genannte Protégé der Grafen von Champagne, Conon de Béthune, eine bedeutende politische Rolle in Konstantinopel spielen.

Von den wenigen Trobadors, die in Nordfrankreich ‚aktenkundig’ werden, sind ausnahmslos alle entweder an den Höfen Aliénors d’Aquitaine selbst – wie zum Beispiel Marcabru und Bernart de Ventadorn – oder aber an den Höfen ihrer Kinder, wie Bertran de Born und Gaucelm Faidit bei Mathilde von Sachsen und Rigaut de Berbezilh bei Marie de Champagne. Sie fördert auch die Kontakte zwischen ihnen und ihrem berühmtesten nordfranzösischen Protégé, Chrétien de Troyes. Er sollte die komplexe Liebeskasuistik der Trobadors im nordfranzösischen Sprachraum bekannt machen und so nicht nur zum ersten Trouvère werden, sondern dem Liebeskonzept der trobadoresken fin’amor auch noch mit seinem Lancelot-Roman ein Denkmal setzen. Ein Unternehmen, das ihm bisweilen ziemliche Kopfschmerzen bereitete, wie sein Stoßseufzer im Prolog belegt:

  

Puis que ma dame de Chanpaigne

Vialt que romans a feire anpraigne

[...]

Mes tant dirai ge que mialz oevre

Ses comandemanz an ceste oevre

Que sans ne painne que g’i mete.

Del Chevalier de la Charrete

Comance Crestïens son livre;

matiere et san li done et livre

la contesse […]. 

Weil es meine Herrin der Champagne

So will, beginne ich diesen Roman.

[...]

Aber ich muss sagen, dass ihre Vorgaben

Mehr Auswirkungen auf diesen Text haben

Als alle Kunst, die ich darein setzen kann.

Chretien beginnt sein Buch

Über den Karrenritter,

Aber der Stoff und die Idee stammen

Von der Gräfin [...]

(Chrétien de Troyes: 1994: 507s., V.1-2 und 21-27).

  

Chrétien sollte auch alsbald die Lust daran verlieren und ließ den Roman von seinem Sekretär beenden.

Die Verbreitung der Trobadorlyrik scheint also, zumindest in ihren Anfängen, eine Art ‚Familienangelegenheit’ zu sein, die sich Wilhelm von Aquitanien, seine Enkelin Aliénor d’Aquitaine und deren Kinder, insbesondere Richard Löwenherz, Alix de Blois, Marie de Champagne und deren Enkel Thibaut IV. teilen. Auf dieses zentrale interkulturelle Netzwerk will ich mich in der Folge, mit der Mutter Maries de Champagne beginnend, konzentrieren. Aliénor d’Aquitaine wird 1122 geboren; sie ist also beim Tod ihres berühmten Großvaters 1126 erst vier Jahre alt und hat wohl kaum persönliche Erinnerungen an ihn oder direkte Kenntnisse seines dichterischen Werks. Aber als sie nur elf Jahre später, 1137, der Tod ihres Vaters mit fünfzehn zur reichsten und mächtigsten Erbin Europas macht, wird dessen Repertoire bestimmt noch am väterlichen Hof von Poitiers gesungen. Und zieht man die traditionelle Ausbildung einer jungen Adligen an diesem Hof in Betracht, kennt sie die Lieder des ‚ersten Trobadors’ nicht nur vom Hörensagen, sondern ist auch in der Lage, sie selbst zu singen und musikalisch zu begleiten. Und sie kennt ganz sicher viel mehr als die elf Lieder, die die Handschriften unter dem Namen des « Coms de Peitieus » überliefern und von denen hier nur Ab la dolcor del tems novel als Beispiel genannt werden kann.

  

Der „erste Trobador“: Aliénors Großvater Wilhelm von Aquitanien

  

Ab la dolcor del tems novel ist eines der frühesten okzitanischen Liebeslieder überhaupt und der Graf von Poitiers zieht darin bereits alle Register. Von einer Strophe zur anderen geht er vom zartfühlenden Liebenden, der seine Liebe mit einem zitternden Weißdorn-Zweig vergleicht, zum fordernden Liebhaber über, der sich nichts sehnlicher wünscht, als die Hände unter dem Mantel der Geliebten zu haben. Und er lässt am Ende auch keinen Zweifel daran, dass er mit derartigen Wünschen durchaus ‚handfesten’ Erfolg hatte:

  

I

 

 

05

 

II

 

10

 

 

III

15

 

 

 

IV

20

 

 

 

 

V 25

 

 

 

30

Ab la dolçor del temps nòvel

Folhon li bòsc, e li aucèl

Chanton chascús en lor latí

Segon lo vèrs del nòvel chan;

Adonc està ben qu’òm s’aisí

D’aissò don òm a plus talan.

De lai don plus m’es bon e bèl

Non vei mesagèr ni sagèl,

Per que mos còrs non dòrm ni ri,

Ni no m’aus traire adenan,

Tro que sacha ben de la fi

S’el’ es aissí com eu deman.

La nòstr’amor vai enaissí

Com la branca de l’albespí

Qu’està sobre l’arbre en treman,

La nuòit, a la plòja ez al gèl,

Tro l’endeman, que’l sols s’espan

Per las fuèlhas vertz e’l ramèl.

Enquèr me membra d’un matí

Que nos fezem de guerra fi,

E que’m donèt un don tan gran,

Sa drudari’e son anèl:

Enquèr me lais Dièus viure tan

Qu’aja mas manz sotz so mantèl!

Qu’eu non ai sonh d’estranh latí

Que’m parta de mon Bon Vezí,

Qu’eu sai de paraulas com van,

Ab un brèu sermon que s’espèl,

Que tal se van d’amor gaban,

Nos n’avem la pèssa e’l coutèl.

In der milden Frühlingszeit

Ergrünen die Wälder, und die Vögel

Singen alle in ihrer Sprache

Nach der Melodie des neuen Gesangs;

Dann ist es gut, das man tue,

Wozu man am meisten Lust hat.

Von dort wo ich mir es am meisten wünschte,

Sehe ich keinen Boten noch versiegelten Brief.

Darum schlafe und lache ich nicht,

Und ich traue mich nicht voran,

Bevor ich nicht genau weiß, ob unser Frieden

Genau so ist, wie ich mir ihn vorstelle.

Um unsere Liebe ist es bestellt

Wie um den Weißdornzweig.

Der des nachts in Regen und Schnee

Auf seinem Strauch zittert

Bis die Sonne am nächsten Morgen

Die grünen Blätter und die Zweige durchflutet.

Ich denke noch an jenen Morgen,

An dem wir Frieden schlossen,

Und sie mir ein so großes Geschenk machte:

Ihre Liebe und ihren Ring.

Möge Gott mich nur so lang am Leben lassen,

Bis ich meine Hände unter ihrem Mantel habe.

Denn ich schere mich nicht um diese fremde Sprache,

Die mich von meiner „Edlen Nachbarin“ trennen will,

Denn ich weiß, wie es um die Worte bestellt ist,

Und die Gerüchte, die gestreut werden.

Mögen sich andere ihrer Liebe rühmen,

Wir aber haben das Brot und das Messer dazu.

  

Der fünfstrophige vers – eine besonders bei den frühen Trobadors verbreitete Liedform – beginnt mit einem für die Trobadorlyrik klassischen Frühlingseingang. Vogelgesang macht die Idylle vollkommen, die das lyrische Ich indessen nicht recht zu genießen vermag, denn ihm fehlt – so der Inhalt von Strophe II – zu seinem Glück eine positive Botschaft seiner fer­nen Geliebten, die ihm Gewissheit darüber verschafft, dass eine Meinungsverschiedenheit ausgeräumt ist und wieder Einvernehmen zwischen den Liebenden herrscht. Das Wechselspiel zwischen Einigkeit und Streit beschreibt die überaus lyrische dritte Strophe mit jenem bereits angesprochenen berühmten Vergleich: Es ist wie der Weißdornzweig – der Strauch mit den zarten weißen Blüten und den garstigen Dornen ist das Symbol der fin’amor der Trobadors schlechthin –, den zwar bisweilen Regen und Kälte erschüttern, der aber am nächsten Morgen unter den Strahlen der Sonne umso schöner erblüht. In Strophe IV erfahren wir dann, wie eine Versöhnung in aller Regel auszusehen hat: Die Dame gewährt eine Liebesgabe und damit einhergehend ihre Gunst – in diesem Fall einen Ring und ihre Liebe (V. 22), wobei es sich, wie die Verwendung des Begriffs drudaria – die Bezeichnung für eine sexuelle Beziehung – und der Inhalt der letzten Strophe unterstreichen, durchaus um einen – auch in der Vergangenheit bereits erwiesenen – erotischen Gunstbeweis handelt; denn am Ende betont das lyrische Ich noch einmal, wie wenig er sich um das Gerede der anderen schert, weil sie beide – seine Geliebte und er – ja ein wirkliches Liebesverhältnis haben, dessen sexuelle Kompo­nente durch die Brot-und-Messer-Metapher drastischer kaum ausgedrückt werden könnte.

Der berühmte Großvater Aliénors d’Aquitaine nahm also kein Blatt vor den Mund, hier nicht und noch viel weniger in einem anderen kleinen Liederzyklus, der sich an seine Companho, seine Kumpane, richtet und dessen ziemlich krude Erotik ihn bisweilen in gefährliche Nähe zur Pornografie rückt.

Zwischen diesen beiden Polen oszilliert auch das dichterische Leben, das Aliénor d’Aquitaine umgibt. Über die Lieder ihres Großvaters hinaus kennt sie sicher auch die misanthropischen, misogynen und nicht minder kruden Lieder Marcabrus, eines der ersten reichhaltig überlieferten Trobadors überhaupt (A. Rieger 2005). Er dichtet schon in Diensten ihres Vaters und folgt nach dessen Tod seiner jungvermählten neuen Herrin glücklos an den Hof von Blois. Möglicherweise sind seine harsche Kritik sowohl der höfischen Gesellschaft als auch des weiblichen Geschlechts nicht nach dem Geschmack der jungen Königin. Aber er könnte nichtsdestoweniger – als einer der wenigen Verfasser einer pastorela, eines Schäferlieds in okzitanischer Sprache – die Verbreitung und den späteren Erfolg des Genres in Nordfrankreich begründet haben.

Es ist nicht genau bekannt, welche weiteren Trobadors vor dem Königspaar in den folgenden fünfzehn Ehejahren auftreten, aber sie müssen recht zahlreich gewesen sein – vor allem während des zweiten Kreuzzugs und des Aufenthalts in Antiochia, wo der Onkel Aliénors d’Aquitaine, Raymond I. von Tripolis, die Tradition seiner Familie, der Grafen von Toulouse, allesamt bekannte Mäzene der trobadoresken Liebeslyrik und eifrige Adepten der fin’amor, hochhält. Es scheint sogar, als habe er die Verehrung, die ihr gemäß der Dame gebührt, im Fall seiner Nichte so weit getrieben, dass ihr königlicher Ehemann derart eifersüchtig wurde, dass er auf dem Heimweg sogar vom Papst die Scheidung verlangt.

Außerdem ist es nicht unmöglich, dass Aliénor d’Aquitaine dort Gelegenheit hat, Jaufre Rudel, den sehnsuchtsvollen Dichter und Erfinder der Liebe zur fernen Geliebten, der amor de lonh, auf den ich am Ende zurückkommen werde, persönlich zu hören.

  

Der Klassiker: Das Lerchenlied Bernarts de Ventadorn

  

Auf der Liste der Trobadors, die sich im Umfeld Aliénors d’Aquitaine bewegen, stehen außerdem praktisch alle großen Namen der zweiten Trobador-Generation; aber ihr getreuester Diener bleibt Bernart de Ventadorn. Der am Hof der Vizegrafen von Ventadorn, einem weiteren glanzvollen kulturellen Zentrum neben Poitiers, ausgebildete Trobador gehört für einige Zeit zum Hofstaat Aliénors d’Aquitaine in der Normandie, nach deren zweiter Heirat mit Henri Plantagenet 1152. Er hat ihr eine ganze Reihe von Liedern gewidmet, und da seine Lyrik von Sinnlichkeit und Erotik strotzt (Rieger: 2000b), haben die Chronisten dieser Zeit keinen Augenblick gezögert, ihm eine Liebesbeziehung zur Königin anzudichten, die ihm die Ungnade des Königs eingebracht habe.

Das hindert Bernart de Ventadorn jedoch nicht daran, heute noch zu den bekanntesten Trobadors überhaupt zu gehören, und sowohl die Fülle der unter seinem Namen überlieferten Lieder als auch der herausragende Rang, den ihnen die überliefernden Handschriften gewähren, legen beredtes Zeugnis von seiner Berühmtheit ab. Er ist der Verfasser einer der bekanntesten Liebesklagen des Mittelalters, des berühmten Lerchenlieds Can vei la lauezta mover. Es ist unmöglich, dass Aliénor d’Aquitaine diesen Ohrwurm – ebenso wie Bernarts andere, ihr explizit gewidmete Lieder – nicht gekannt und bisweilen auch selbst die berühmten Worte des melancholischen Liedes vor sich hin gesummt hat:

  

I

 

 

5

 

 

 

II

10

 

 

 

15

 

III

 

20

 

 

 

 

IV 25

 

 

 

30

 

 

V

35

 

 

 

40

VI

 

 

45

 

 

 

VII

50

 

 

 

55

 

VIII

 

60

Quand vei la laudeta mover

De jòi sas alas contra’l rai,

Que s’oblid’ e’s laissa cazer

Per la doussor qu’al còr li vai,

Ailas! quals enveja m’en ve

De cui qu’eu veja jauzion !

Meravilhas ai, quar dessé

Lo còrs de dezirièr no’m fon.

Ailas! tan cujava saber

D’amor, e tan petit en sai!

Quar eu d’amar no’m pòsc tener

Celèis don ja pro non aurai;

Tòut m’a mon còr, e tòut m’a me

E si mezeis e tot lo mon;

E quan si’m tòlc, no’m laisset re

Mas dezirièr e còr volon.

Anc non aguí de mi poder

Ni no fui meus deslòr en sai,

Que’m laissèt en sos òlhs vezer

En un miralh que mout mi plai.

Miralhs, pòs me mirèi en te,

M’an mòrt li sospir de preon,

Qu’aissí’m perdèi com perdèt se

Lo bèlhs Narcisus en la fon.

De las dòmnas mi dezesper,

Jamais en lor no’m fiarai,

Qu’aissí com las sòlh captener,

Enaissí las descaptenrai:

Pos vei que nulha pro no’m te

Ab lèis que’m destrui e’m cofón,

Totas las dopt e las mescré,

Car sai que atretals se son.

D’aissò’s fai ben femna parer

Ma dòmna, per qu’eu l’o retrai,

Que vòl sò qu’òm no deu voler,

E sò qu’òm li deveda fai.

Cazutz sui en mala mercé

Et ai ben fait com fòls en pon,

E no sai perqué m’esdevé,

Mas quar trop pogèi contra mon.

Mercés es perduda per ver,

Et eu non o saubí ancmai,

Car cil que plus en degr’aver

Non a ges, et on la querrai?

A! quan mal sembla, qui la ve,

Que aquest caitiu deziron,

Que ja ses lèis mon aurà be,

Laisse morir, que no l’aón.

Pòs ab mi dòns no’m pòt valer

Prècs ni mercés ni’l dreitz qu’eu ai,

Ni a lèis no ven a plazer

Qu’eu l’am, jamais no lo’i dirai.

Aissí’m part d’amor e’m recré :

Mòrt m’a e per mòrt li respón,

E vau m’en, pos ilh no’m reté,

Caitius en eissilh, no sai on.

Tristans, ges non auretz de me,

Qu’eu m’en vau caitius, no sai on :

De chantar me gic e’m recré,

E de jòi e d’amor m’escón.

Wenn ich die Lerche sehe, wie sie voller Freude ihre Flügel zu den Strahlen der Sonne trägt,

Wie sie sich dann voller Lebenslust

Vergisst und fallen lässt,

– Weh mir! – wie beneide ich dann

Alle, die ich glücklich sehe,

Und ich wundere mich, dass mein Herz

Nicht sofort vor Sehnsucht zerspringt.

.

Weh mir! Wie viel glaubte ich von der Liebe zu wissen,

Und wie wenig weiß ich davon!

Denn ich kann nicht anders, als die lieben,

Bei der ich nie etwas erreichen werde.

Mein Herz hat sie mir genommen, und mich selbst,

Und dann sich und damit die ganze Welt.

Und da sie sich mir nahm, ließ sie mir nichts

Als Sehnsucht und ein unstillbares Verlangen.

Nie mehr hatte ich Macht über mich,

Nie mehr gehörte ich mir selbst

Seit der Stunde, da sie mich in ihre schönen Augen sehen ließ:

In einen Spiegel, der mir so sehr gefällt.

Spiegel, seit ich mich in dir spiegelte,

Haben mich die Seufzer aus der Tiefe getötet,

Und ich verlor mich, so wie sich

Der schöne Narziss verlor, in der Quelle.

An den Frauen verzweifle ich;
Nie mehr werde ich ihnen vertrauen.
Stets habe ich mich für sie eingesetzt,
Aber jetzt werde ich sie im Stich lassen.
Weil ich sehe, dass auch nicht eine einzige mir helfen will
Bei derjenigen, die mich vernichtet,
Fürchte ich sie alle und misstraue ihnen,
Denn ich weiß wohl: Sie sind alle gleich.

Darin lässt sich meine Dame als wahres Weib erkennen
– Und deshalb werfe ich ihr das auch vor –,
Dass sie nicht will, was man wollen soll,
Und das tut, was man ihr verbietet.
Ich bin in Ungnade gefallen,
Und ich habe mich benommen wie der Narr auf der Brücke

Und ich weiß nicht, warum mir das geschieht

– Außer vielleicht, weil ich mich zu hoch verstieg.

Die Gnade ist wirklich verlorengegangen,
Und ich wusste es nicht, bis jetzt.
Denn diejenige, die am meisten Gnade haben sollte,
Hat überhaupt keine – wo soll ich sie jetzt suchen?
Ach! Wie soll man glauben, wenn man sie sieht,
Dass sie diesen unglücklichen Verehrer,
Der ohne sie niemals Freude haben wird,
Sterben lässt – erbarmungslos?

Da mir bei meiner Dame nichts helfen will,

Weder Bitten, noch Mitleid noch mein Recht,

Und weil es ihr nicht gefällt,

Dass ich sie liebe, werde ich ihr nie mehr davon sprechen.

Ich nehme Abschied von der Liebe und ziehe mich zurück,

Sie wollte meinen Tod und soll ihn haben.

Und ich gehe, da sie mich nicht zurückhält,

Unglücklich ins Exil, weiß nicht, wohin.

Tristan, Ihr werdet nichts mehr von mir bekommen,

Denn ich gehe, jämmerlich, weiß nicht wohin.

Ich verzichte auf das Singen

Und verberge mich fern der Lebensfreude und der Liebe

(Bec: 1972, 186-188; Übers. nach Robert Lug).

  

Auch wenn die Trobadors in aller Regel eine unerfüllte oder unerfüllbare Liebe besingen, gehört diese Kanzone Bernarts de Ventadorn aus der recht verbreiteten Gruppe der Trennungs- und Abschiedslieder zugleich zu den schönsten und verzweifeltsten der Gattung – und zu den berühmtesten: Dante zitiert sie in der Divina Commedia (Paradiso XX), zahlreiche Trobador-Kollegen späterer Generationen lassen sich von ihr inspirieren und auch der erste bekannte Trouvère, Chrétien de Troyes, nimmt auf sie Bezug, wie wir gleich noch sehen werden.

Die Eingangsstrophe variiert mit dem Bild der Lerche ein Element aus dem traditionellen Frühlingseingang und evoziert so nach dem Goetheschen Motto „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ den jubelnden Gesang des Trobadors und dessen ‚Absturz’ in die Melancholie, wenn sich die Angebetete als unnahbar erweist (Strophe II). Rückblickend sieht sich das lyrische Ich als Opfer eines zu tiefen Blicks in den Spiegel ihrer schönen Augen, ein Blick, der – solche Vergleiche mit mythologischen Figuren besonders aus dem Umfeld Ovids sind durchaus geläufig – für ihn ebenso folgenschwer ist wie Narziss’ Blick in die Quelle (Strophe III). In der zentralen Strophe IV weitet das lyrische Ich seine Klage auf alle Damen aus, denn keine sei bereit, sich für ihn und seine Rechte bei der widerspenstigen Angebeteten einzu­setzen und sie an ihre Pflicht, dem unglücklichen Sänger ihre Gunst zu erweisen, zu erinnern.

Der Sänger verkündet darum seinen Entschluss, künftig der Liebe – und dem Gesang – völlig zu entsagen. Allerdings nicht, ohne zuvor in Strophe V noch einmal alle Register gegen seine pflichtvergessene mala domna zu ziehen. Im Gegensatz zur guten Dame, zur bona donma, ist sie eine böse Dame, der auch nur eine mala canso, eine kritische Kanzone, gebührt: Die domna, die angebetete Herrin, wird darin nämlich plötzlich zur femna, zum „Weib“, und verhält sich keine Spur anders als die anderen, indem sie nämlich genau das tut, was sie nicht soll, aber niemals das, was sie tun soll. Die zweite Halbstrophe nimmt die Liebesklage wieder auf, die sich in Strophe VI mit der verzweifelten Frage „Was nun?“ fortsetzt. Denn wohin soll sich der Sänger wenden, wenn er bei seiner Angebeteten keine Gnade findet (V. 44)? Ihm bleiben nur der Tod oder das Exil (Strophe VII). In der abschließenden Geleitstrophe gibt er seinem Spielmann, Tristan, den Abschied und bekräftigt, künftig keine Lieder mehr zu dichten. Am Ende steht er alleine und ohne Ziel da – ein perspektivlos gescheiterter Sänger der fin’amor.

Nach dieser verzweifelten Liebesklage Bernarts de Ventadorn wird es für die weitere Entwicklung des Trobadors und Trouvères verbindenden Netzwerks notwendig, einen Blick auf das Schicksal der beiden Töchter Aliénors d’Aquitaine nach deren Scheidung von Ludwig VII. zu werfen. Es gilt als sicher, dass die beiden Prinzessinnen ihrer Mutter weder nach Poitiers noch an den normannischen Hof gefolgt sind. Die zukünftige Marie de Champagne ist zu diesem Zeitpunkt gerade sieben und ihre Schwester, die zukünftige Alix de Blois, nur zwei Jahre alt. Mit ihrer Mutter haben sie somit – zumindest für eine Weile – die Verbindung zur Welt der Trobadors verloren.

Aber sie bleiben auch nicht beim Vater, denn der „gekrönte Mönch“, wie Aliénor d’Aquitaine ihren Ex-Gatten verächtlich nannte, hat nichts Eiligeres zu tun, als sie so schnell wie möglich los zu werden. Nach ihrer Verlobung mit den beiden Brüdern Henri de Champagne und Thibaut de Blois 1153 wechseln sie wohl – den höfischen Gepflogenheiten entsprechend – an den Hof ihrer künftigen Schwiegereltern, um dort auf ihre zukünftigen Aufgaben als Herrinnen und gräfliche Ehefrauen vorbereitet zu werden. So wachsen Marie und Alix sehr wahrscheinlich mit den zwölf Kindern der Grafen von Champagne auf. Sie sind darum nicht weniger von ihrer Mutter getrennt; und die Frage nach dem Kontakt mit ihr in dieser Zeit ist ungelöst, auch wenn sich die drei später wiederfinden. Für ihre künftige Entwicklung ist es jedoch wichtig, dass sie auf diese Weise der asketischen königlichen Obhut entkommen und sich so zu jenen gebildeten und offenen Mäzeninnen entwickeln können, als die sie nach ihrer Heirat 1164 – Marie war zu diesem Zeitpunkt neunzehn und Alix fünfzehn – an der Seite ihrer Ehemänner auftreten.

  

Der Generationswechsel: Von Aliénor d’Aquitaine zu ihren Kindern Marie de Champagne und Richard Löwenherz

  

Doch kehren wir zu jenem Trobador zurück, den wir zu Füßen ihrer Mutter in der Normandie zurückgelassen haben. Es entwickelt sich nämlich dort eine enge Beziehung zwischen Bernart de Ventadorn und dem künftigen Protégé Maries de Champagne, Chrétien de Troyes (Rossi: 1987). Und selbst wenn es schwierig ist, den direkten Kontakt zwischen Mutter und Tochter zu belegen, so ist er indirekt doch – auf dem Umweg über ihre beiden Lieblingsdichter – nicht zu leugnen. Chrétien de Troyes war einer der ersten nordfranzösischen Dichter, die mit der Welt der Trobadors in Berührung kamen und sie imitierten, und er ist definitiv der erste, dessen diesbezügliche Versuche überliefert sind.

Inzwischen ist die Entwicklung unseres kleinen Kreises in ein neues Stadium getreten und im Begriff, zum Ausgangspunkt des Verteiler-Netzwerks der Trobadorlyrik in Nordfrankreich zu werden. Während der fünfzehn ersten Jahre ihrer zweiten Ehe hat Aliénor d’Aquitaine nämlich acht weitere Kinder geboren, darunter den zukünftigen König Richard Löwenherz, der sich ebenfalls aktiv an der Ausweitung des Netzwerks in Nordfrankreich beteiligen wird. Danach folgt eine zweite Trennung, Aliénor d’Aquitaine verlässt den normannischen Hof und kehrt nach Poitiers zurück. Zu dieser Zeit soll sie auch jenen legendären Liebeshof, die Cour d’amour, geschaffen haben, den ein weiterer ihrer Protégés, Andreas Capellanus, in seinem gelehrten Traktat De Amore verewigt. Aber selbst wenn dieser Liebeshof ins Reich der Sage gehören sollte, so ist es doch gewiss, dass es in den fünf Jahren, die zwischen der Trennung von ihrem Mann 1167 und ihrer Gefangensetzung 1173 (weil sie ihre Söhne gegen den Vater aufgehetzt hat) Gelegenheit genug für die drei Frauen, Aliénor d’Aquitaine und ihre beiden Töchter, gibt, sich dort zu treffen oder zumindest über Boten ausgiebig zu verständigen.

Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, dass auch die Wahlverwandtschaft zwischen Marie de Champagne und ihrem zwölf Jahre jüngeren Halbbruder Richard Löwenherz, die aus seinem berühmten Gefangenen-Lied spricht, auf das ich gleich noch zurückkomme, aus dieser Zeit stammt. Marie unterhält auch familiäre Beziehungen zu ihren beiden anderen Halbbrüdern, und ihr Hoftrobador Gace Brulé zum Beispiel hält sich, nachdem er den Grafenhof und seine „douce Champagne“ verlassen hat, am Hof Geoffroys de Bretagne auf, wo er sich mit dem Trobador Betran de Born austauschen kann.

Weitere Begegnungsmöglichkeiten ergeben sich dann erst wieder nach der Befreiung Aliénors d’Aquitaine nach sechzehnjähriger Gefangenschaft durch ihren Lieblingssohn, Richard Löwenherz, seit dem Tod seines Vaters und seines älteren Bruders 1189 König von England. Ihm richtet sie in Sizilien ein prunkvolles Hochzeitsbankett aus, bei dem sicher auch eine große Zahl von Trobadors und Trouvères nicht fehlen durfte.

Außerdem hat sie am Hof ihrer Tochter Marie die Gelegenheit, sich über die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu informieren und dort die Lieder Conons de Béthune und seiner Nachfolger zu hören, als sie dort 1194 Station macht, um mit dem Lösegeld für Richard Löwenherz nach Köln zu reisen.

Mit der Rebellion der Söhne Aliénors gegen Henri Plantagenet betritt eine weitere Schlüsselfigur in der Verbreitung der Trobadorlyrik die Szene: Bertran de Born, der Kriegstreiber. Infolge einer Reihe von Intrigen, die zu entwirren hier zu weit führte, avanciert er zum Chronisten dieses Konflikts und kommt so in Berührung mit Richard, der auch selbst zum Dichter wird. Parallel dazu pflegt Bertran de Born den Umgang mit einem bereits bekannten Schützling der Grafen von Champagne, Conon de Béthune, dem er, so scheint es, die Kunst der Trobadors so nahe bringt, dass beider Werk zahlreiche intertextuelle Beziehungen verbinden.

Es ist wichtig, sich die historische Rolle Richards zu vergegenwärtigen, denn durch sein aquitanisches und französisches Erbe sowie die Gefangenschaft im Land der Minnesänger verfügt er über jenen dreifachen kulturellen Hintergrund, der ihn zum Mittler zwischen den Kulturen prädestiniert. Selbst Dichter und als Feudalherr den Idealen seiner Mutter verpflichtet, schart auch er eine große Zahl von Trobadors und Trouvères um sich, die zum Teil auch wieder am Hof der Grafen von Champagne auftauchen. Trotz seiner Verstrickung in die großen politischen Konflikte seiner Zeit, lässt er nie ganz von der Dichtung, die ihm seine Mutter und zahlreiche Aufenthalte auf aquitanischem Gebiet nahegebracht haben. Er umgibt sich mit Guillem de Berguedan, Arnaut Daniel und dem bereits genannten Bertran de Born, dem er seinen Zunamen „Löwenherz“ verdankt, der zuerst im Geleit zu einem seiner Lieder auftaucht: „Papiol, sias tan cochos,/ Di·m En Richart qu’il es leos – Papiol, Spielmann, sag Richard, dass er ein Löwe ist“, heißt es da. Der „Meister der Trobadors“ schließlich, Guiraut de Bornelh, begleitet Richard auf dem dritten Kreuzzug und bei seinem Tod 1199 widmet ihm Gaucelm Faidit ein berühmtes Klagelied.

Außerdem gehört Richard zu den seltenen zweisprachigen Dichtern. Zwei Lieder sind unter dem Namen des reis Richart d’Anglaterra überliefert, das erste, das bekannte, Marie de Champagne gewidmete Ja nuls hom pres non dira sa razon, ist sowohl in einer okzitanischen als auch in einer französischen Fassung überliefert. Während seiner Gefangenschaft im Land der Minnesänger 1193 entstanden, besteht es im wesentlichen aus einem flammenden Appell an seine Vasallen, das geforderte Lösegeld zu seiner Befreiung zusammenzubringen und variiert in jeder Strophe die ergreifende Klage sui pris – „ich bin gefangen“:

  

I



5


V

 

 

Ja nuls hom pres non dira sa razon

Adrechament, si com hom dolens non;

Mas per conort deu hom faire canson.

Pro n’ay d’amis, mas paure son li don;

Ancta lur es si, per ma rezenson,

Soi sai dos yvers pres.

[...]

Suer comtessa, vostre pretz sobeiran

Sal Dieus, e gard la bella qu’ieu am tan ;

Ni per cui soi ja pres.

Niemals kann sich ein Gefangener

Zart ausdrücken, es kann nur traurig sein.

Aber er kann sich ein leidenschaftliches Lied abringen.

Ich habe viele Freunde, aber ihre Gaben sind gering.

Und es entehrt sie, dass ich wegen des Lösegelds

Schon zwei Winter gefangen bin.

[...]

Gräfliche Schwester, eure hohe Tugend

Schütze und behüte euch vor dem, den ich anklage,

Und wegen dem ich gefangen bin.

(de Riquer : 1975, 753-54 ; V. 1-6 und 25-27).

  

Sein zweites überliefertes Werk, von 1194, ist eine dem Trobador Dalfin d’Alvernha gewidmete französische Bitte um politischen Rückhalt, die dieser wiederum auf Okzitanisch mit Reis, pus vos de mi chantatz beantwortet.

  

Zwei Trobadors am Hof Maries de Champagne: Chrétien de Troyes und Conon de Béthune

  

Unter all den Namen, die die trobadoresken Binnen-Netzwerke mit jenem der Trouvères verbinden, tauchen zwei immer wieder auf: Chrétien de Troyes und Conon de Béthune. Ihre Lieder dürften mit großer Regelmäßigkeit auch am Hof der Grafen von Champagne zu hören sein: Ihr berühmtester Protégé, Chrétien de Troyes, lässt dort mit Sicherheit von Zeit zu Zeit eines seiner Liebeslieder vortragen oder singt sie vielleicht sogar selbst. Je nach Attribution sind ein bis sechs seiner Lieder überliefert; als gesichert gilt D’Amors, qui m’a tolu a moi :

  

I

 

 

5

 

 

 

 

II 10

 

 

 

15

 

 

 

III

20

 

 

 

25

 

 

IV

30

 

 

 

35

 

V

 

40

 

 

 

45

VI

 

 

50

D’Amors, qui m’a tolu a moi

N’a soi ne me veut retenir,

Me plaing ensi, qu’adés otroi

Que de moi face son plesir.

Et si ne me repuis tenir

Que ne m’en plaigne, et di por quoi:

Car ceus qui la traïssent voi

Souvent a lor joie venir

Et g’i fail par ma bone foi.

S’Amors pour essaucier sa loi

Veut ses anemis convertir,

De sens li vient, si com je croi,

Qu’as siens ne puet ele faillir.

Et je, qui ne m’en puis partir

De celi vers qui me souploi,

Mon cuer, qui siens est, li envoi;

Mes de noient la cuit servir

Se ce li rent que je li doi.

Dame, de ce que vostres sui,

Dites moi se gre m’en savez.

Nenil, se j’onques vous conui,

Ainz vous poise quant vous m’avez.

Et puis que vos ne me volez,

Dont sui je vostres par ennui.

Mes se ja devez de nului

Merci avoir, si me souffrez,

Que je ne sai servir autrui.

Onques du buvrage ne bui

Dont Tristan fu enpoisonnez;

Mes plus me fet amer que lui

Fins cuers et bone volentez.

Bien en doit estre miens li grez,

Qu’ainz de riens efforciez n’en fui,

Fors que tant que mes euz en crui,

Par cui sui en la voie entrez

Donc ja n’istrai n’ainc n’en recrui.

Cuers, se ma dame ne t’a chier,

Ja mar por cou t’en partiras:

Tous jours soies en son dangier,

Puis qu’empris et comencié l’as.

Ja, mon los, plenté n’ameras,

Ne pour chier tans ne t’esmaier;

Biens adoucist par delaier,

Et quant plus desiré l’auras,

Plus t’en ert douls à l’essaier.

Merci trovasse au mien cuidier,

S’ele fust en tout le compas

Du monde, la où je la quier;

Mes bien croi qu’ele n’i est pas

Car ainz ne fui faintis ne las

De ma douce dame proier :

Proi et reproi sanz esploitier,

Comme cil que ne set a gas

Amors servir ne losengier.

Ich klage über die Liebe, die mich mir wegnahm,

Und mich auch nicht bei sich behalten will,

Ich klage und akzeptiere zugleich, Dass sie mit mir tun kann, was ihr beliebt.

Und dennoch kann ich nicht anders

Als über sie zu klagen und das aus diesem Grund:

Oft sehe ich jene, die sie täuschen,

Ihren Spaß haben,

Und ich gehe trotz meiner Loyalität leer aus.

Da die Liebe, um ihr Gesetz durchzusetzen,

Ihre Feinde bekehren will,

Ist es, glaube ich, logisch,

Dass sie ihre Getreuen nicht im Stich lassen kann.

Und ich, der mich nicht von jener trennen kann,

Der ich ergeben bin,

Schicke ihr mein Herz, das ihr gehört,

Aber das ist kein echter Dienst,

Denn ich gebe ihr nur, was ich ihr schulde.

Herrin, sagt mir, dass ihr es mir dankt,

Wenn ich der Eure bin.

Nein, wenn ich Euch richtig einschätze,

Ist es Euch eher lästig, dass ich der Eure bin.

Und da ihr mich nicht wollt,

Gehöre ich Euch wider Euren Willen.

Aber wenn ihr je irgend jemand

Eure Gnade erweisen wollt, erweist sie mir,

Denn ich kann keiner anderen dienen.

Nie trank ich von dem Zaubertrank,

Der Tristan vergiftete;

Aber ich liebe mehr als er

Mit meinem edlen Herzen und meinem guten Willen.

Dafür gebührt mir Dank,

Denn nichts zwang mich dazu,

Außer dass ich meinen Augen traute,

Die mich auf den Weg lenkten,

Den ich nie verlassen und dem ich immer folgen werde.

Mein Herz, wenn meine Dame dich nicht schätzt,

Wirst du dich darum nie von ihr abwenden.

Du sollst für immer in ihrer Macht bleiben,

Da du dies unternommen und angefangen hast.

Nie wirst du, bei meiner Seele, den Überfluss lieben,

Noch dich von Hungerzeiten schrecken lassen.

Das Gute ist süßer, wenn es auf sich warten ließ,

Und je mehr du es ersehnt haben wirst,

Desto mehr wirst du es genießen.

Ich denke schon, ich hätte Gnade gefunden,

Da, wo ich sie suchte,

Wenn sie im Weltenrund existierte;

Aber ich glaube, es gibt sie nicht,

Denn nie wäre ich zu träge oder zu müde

Meine geliebte Dame anzubeten:

Ich bete sie ohne Unterlass an,

Wie einer, der es nicht versteht,

Mit der Liebe zu spielen oder sie zu betrügen

(Zai: 1974, 75-80).

  

Es ist kein Zufall, wenn dieses Lied an das berühmte Lerchenlied Bernarts de Ventadorn erinnert, nichtsdestoweniger jedoch ganz anders endet und auch sonst einen ganz anderen Umgangston mit der Dame pflegt: Der enttäuschte Liebende verlässt die Dame ja grollend, während der ebenso melancholische Sänger in Chrétiens de Troyes Werk auf dem einmal eingeschlagenen Weg der Bescheidenheit und des Liebesdienstes unbeirrt fortschreitet.

Über sechs Strophen stilisiert sich das lyrische Ich in diesem grand chant courtois, dem hohen Lied der höfischen Liebe der Trouvères, zum der Dame in unverbrüchlicher Treue verbundenen Diener. Zwar regt sich auch in ihm ein klein wenig Unwillen darüber, dass er so glücklos und andere, den Spielregeln der höfischen Liebe weniger Respekt zollende Liebende, so viel glücklicher sind als er (V. 7-9), zwar spricht auch er gleich darauf in Strophe II das Recht an, dass ihm als wirklich treuem Diener eigentlich eine Belohnung zusteht (V. 10-13), aber nur, um in der zweiten Halbstrophe wieder darauf zu verzichten: Wenn er der Dame sein Herz schenkt, gibt er ihr ja nur, was ihr ohnehin zusteht. Und selbst wenn die Dame dieses Herz, seinen Besitzer und dessen Dienste gar nicht will, kann er nicht anders, als ihr treu zu dienen (Strophe III). Nur wenn die Angebetete doch einmal jemandem ihre Gunst schenken wolle, bittet er sie in der zweiten Halbstrophe in aller Bescheidenheit, dann an ihn zu denken.

Die vierte Strophe thematisiert mit der Anspielung auf Tristan und Isolde gleich zwei entscheidende Unterschiede zwischen den in der Folge noch gegenüber zu stellenden Liebeskonzeptionen der Trobadors und Trouvères: Besingt die Troadorlyrik ohne Scheu auch die Liebe zur verheirateten domna, ja ist dies einer der wesentlichen Aspekte zur Distanzierung der Angebeteten – ein Phänomen, das ich gleich noch am Beispiel Jaufré Rudels näher erläutern werde –, versucht sich die Trouvèrelyrik in einem moralisch unbedenklicheren Rahmen zu bewegen: Nicht der durch den Liebestrank verrückt nach der einem anderen versprochenen Isolde gewordene Tristan ist der wahre Liebende, sondern der, der – wenn auch nicht klaglos – verzichtet und leidet. Und nicht das durch den Liebestrank symbolisierte erotische Begehren, sondern dessen Herzensbildung zeichnen den wahrhaft Liebenden aus. Die zweite Halbstrophe kehrt dann wiederum zum lyrischen Ich und dessen Art des Verliebens zurück: Im Gegensatz zum verbitterten Sänger des Lerchenlieds ist nicht er es, der sich in den Augen der Dame spiegelt, sondern er hat schlicht „seinen Augen getraut“ (V. 34-35) – das heißt, die richtige Dame erwählt, der er nun für immer dienen will. In der fünften Strophe macht sich das lyrische Ich erneut Mut, nicht von diesem einmal gewählten Weg abzuweichen und ermuntert sich zugleich selbst, fest auf die Spielregeln der höfischen Liebe vertrauend, zur Geduld: Irgendwann muss ihm die ersehnte Belohnung für seinen getreuen Liebesdienst ja doch zuteil werden (V. 41-45). Erst in der letzten Strophe werden leise Zweifel daran laut, dass die ersehnte Gnade gar nicht existieren, der Sänger einer Schimäre nachjagen könnte (V. 46-49). Doch seine Leidensbereitschaft und sein Langmut sind grenzenlos: Selbst diese Zweifel können nichts an dem einmal gefassten Entschluss ändern, die geliebte Dame stets anzubeten und ihr treu zu bleiben.

Chrétien de Troyes tut hier alles, um sein Vorbild zugleich zu variieren und zu widerlegen. Es ist offensichtlich, dass wir hier dem Liebesbegriff des temperamentvollen Urgroßvaters Maries de Champagne sehr fern sind, und es verwundert in diesem Licht weniger, dass Chrétien die von ihr in Auftrag gegebene eingangs zitierte ehebrecherische Geschichte von Lancelot und der Königin Guenièvre nicht zu Ende bringen will.

Der dritte im intertextuellen Bund ist Conon de Béthune, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten am Hof der Grafen von Champagne, und das sowohl in poetischer als auch in politischer Hinsicht. Als pikardischer Adliger wird er von einem der ersten Trouvères überhaupt ausgebildet, Huon d’Oisy. Dieser hat als Vizegraf von Meaux dort mit Sicherheit gelegentlich seine Lehnsherrin Marie de Champagne empfangen, wo sie den jungen Conon de Béthune entdeckt und alsbald an ihren Hof holt. Er fühlt sich seiner Gönnerin in besonderer Weise verpflichtet, was aus seiner bitteren Klage über den Spott des französischen Königshauses ob seines pikardischen Akzents überdeutlich wird:

  

Ke mon langaige ont blasmé li François

Et mes cançons, oiant les Champenois

Et la Contesse encoir, dont plus me poise.

La Roïne n’a pas fait ke cortoise

Ki me reprist, ele et ses fieus, li Rois.

Encoir ne soit ma parole franchoise,

Si la puet on bien entendre en franchois,

Ne chil ne sont bien apris ne cortois

S’il m’ont repris se j’ai dit mos d’Artois,

Car je ne fui pas norris a Pontoise.

Denn die Franzosen haben meine Sprache verspottet

Und meine Lieder; die Champenois haben es gehört

Und vor allem die Gräfin, was mich am meisten ärgert.

Denn die Königin war nicht höflich

Als sie mich korrigierte, und ihr Sohn, der König.

Auch wenn ich nicht französisch spreche,

Versteht man mich sehr gut,

Und die sind weder gebildet noch höfisch,

Die mich kritisierten, als ich ein Wort aus dem Artois benutzte,

Denn ich wurde nicht in Pontoise erzogen

(Wallensköld: 1968, 5; V. 5-14).

  

Wenig später wird Conon de Béthune einer der einflussreichsten Teilnehmer des vierten Kreuzzugs und niemand wird mehr über seinen Akzent lachen: Bei der Eroberung von Konstantinopel 1204 tritt er in diplomatischer Mission für Balduin von Flandern, den zukünf­tigen Kaiser, auf, der ihm in seiner Abwesenheit die Regentschaft überträgt und ihn später zum Gouverneur von Andrinopel in der Türkei macht, wo er gegen 1219 oder 1220 stirbt.

Seine zehn überlieferten Lieder oszillieren zwischen der Frauen- und der Gottesliebe und wir verdanken ihm eine neue Variante des höfischen Trouvèrelieds: das Abschiedslied des zwischen beidem hin- und hergerissenen Kreuzfahrers für seine Dame, wie dieses Kreuzlied zum dritten Kreuzzug J’aurais bien aimé me dispenser:

  

I

 

 

 

 

 

 

Bien me deüsse targier

De chançon faire et de mos et de chans,

Quant me convient eslongier

De la millor de totes les vaillans,

Si em puis bien faire voire vantance,

Ke je fas plus por Dieu ke nus amans,

Si en sui mout endroit l’ame joians,

Mais del cors ai et pitié et pesance.

Ich hätte gerne darauf verzichtet,

Dieses Lied zu dichten,

Denn ich muss

Die Beste der Besten verlassen.

Und darum darf ich mich wirklich rühmen,

Mehr für Gott zu tun als alle anderen Liebenden;

Und so frohlockt meine Seele,

Aber mein Herz ist voll Kummer

(Wallensköld: 1968, 8, V. 1-8).

  

Mit diesem leidenschaftlichen Kreuzlied schließt sich der Kreis: Von den Liedern, die der Urgroßvater Maries de Champagne vom ersten Kreuzzug mitbringt bis zu diesem Aufbruch, der Maries Ehemann ein zweites Mal ins Heilige Land führen sollte, sind uns im Umfeld ihres Hofes drei Dichtergenerationen begegnet, die alle zum umfassenden Netzwerk, das nun Trobadors und Trouvères verband, beigetragen haben.

Die zitierten Beispiele bestätigen, dass das eingangs zum Thema „Verbreitungswege der Trobadorlyrik“ formulierte komplementäre Netzwerk-Modell tragfähig ist: Seit den Anfängen der Trobadorlyrik gestattet es die Existenz ausgesprochen reger interkultureller Kontakte zwischen Trobadors und Trouvères.

Rückblickend scheint die Verbreitung der Trobadorlyrik zudem zu Beginn tatsächlich eine Art ‚Familienangelegenheit’ zwischen Wilhelm von Aquitanien, seiner Enkelin Aliénor und deren Kindern, Richard Löwenherz, Alix de Blois, Mathilde de Saxe und Marie de Champagne, sowie deren Enkel Thibaut zu sein. Ihre Höfe bilden als untereinander vernetzte literarische Zentren eine Art trobadoreskes Ur-Verteiler-Netzwerk.

Nach diesem die Zusammenhänge zwischen Trobador- und Trouvèrelyrik ansatzweise veranschaulichenden Modell werde ich mich nun der Vertiefung der ihnen zu Grunde liegenden Liebeskonzeptionen zuwenden.

  

Amor de lonh – Jaufré Rudel und die Liebe zur fernen Geliebten

  

Kein Kulturereignis der letzten Jahre hat die lebendige Verbindung zwischen älterer und neuester französischer Literatur so sichtbar gemacht wie die Uraufführung der Oper L’Amour de loin – das ist die französische Entsprechung für die berühmte altokzitanische Formel amor de lonh – der finnischen Komponistin Kaija Saariaho bei den Salzburger Festspielen (Rieger: 2005). Der mittelalterliche Stoff im modernen Gewand brachte die Kritik zum Schwärmen und das Publikum zum Träumen. Welche Faszination, so fragt man sich, geht von der Legende des Trobadors Jaufré Rudel aus, dass sie noch heute nicht nur ein Massenpublikum zu rühren vermag, sondern auch einen der Welt des Mittelalters als Zeit der Kreuzzüge durchaus nicht unkritisch gegenüberstehenden Gegenwartsautor wie Amin Maalouf inspiriert? Dieser Frage will ich hier in drei Schritten nachgehen: Der Vorstellung des Trobadors Jaufré Rudel, der uns bereits begegnete, und seiner legendären vida folgt ein Versuch der Verortung des Mythos der Amour de loin in der fin’amor als übergeordneter Begriff für die Liebeskonzeption der Trobadors. Wie fest er sich bereits im Mittelalter in der literarischen Überlieferung etabliert hat, soll ein Vergleich mit Jean Renarts Roman de la rose ou de Guillaume de Dole zeigen.

Jaufré Rudel, den die mittelalterliche Lebensbeschreibung oder vida als „Senher de Blaya“ – aus Blaye in der Gironde – vorstellt, und dessen schmales lyrisches Werk zwischen 1125 und 1148 entsteht, ist ein authentischer Prinz: Die Herren von Blaya führen den Titel schon in Dokumenten des 11. Jahrhunderts. Belegt ist ferner, dass er 1148 seinen Onkel und Lehnsherrn, Wilhelm von Angoulême, auf dem zweiten Kreuzzug ins Heilige Land begleitet und so wohl auch mit ihm und seinen Gefolgsleuten am 13. April 1148 in Akkon, also etwa 200 km südlich von Tripolis, an Land geht. Der Trobador Marcabru schickt im Sommer desselben Jahres eines seiner Lieder auf die Reise A·N Jaufré Rudel outra mar, „in Übersee“. Vermutlich stirbt der Prinz von Blaya dort während des Kreuzzugs; zumindest ist er nicht von ihm zurückgekehrt.

Endgültig berühmt macht den Trobador der mittelalterliche Bericht über seine Liebe zur Gräfin von Tripolis, für die er die Kreuzfahrt überhaupt erst unternommen haben soll. Eine Gräfin Odiarne lebt zwar im fraglichen Zeitraum (1127-1152) zusammen mit ihrem Ehemann Raimon II. und ihrer Tochter Melisenda in der von den Grafen von Toulouse im Libanon ge­gründeten christlichen Grafschaft Tripolis, aber weder Jaufré Rudels Tod in den Armen einer der beiden Gräfinnen noch sein Aufenthalt in Tripolis überhaupt sind historisch belegbar.

Nun liegt der Reiz dieser Legende aber gerade darin, dass sie angesichts der historischen Überlieferungslage auch nicht recht widerlegbar ist. Das tragische Ende des Trobadors hat seinen wahren Kern eben darin, dass sich die Spur des Prinzen von Blaya tatsächlich auf dem zweiten Kreuzzug in einiger Nähe zu Tripolis verliert. So schildert dies Jaufré Rudels anonymer mittelalterlicher Biograph:

  

Et enamoret se de la comtessa de Tripol, ses vezer, per lo ben qu’el n’auzi dire als pelerins que venguen d’Antiocha. [...] Et per voluntat de leis vezer, el se croset e se mes en mar, e pres lo malautia en la nau, e fo condug a Tripol, en un alberc, per mort. E fo fait saber al la comtessa et ella venc ad el, al son leit e pres lo antre sos bratz. E saup qu’ella era la comtessa, e mantenent recobret l’auzir e·l flairar, e lauzet Dieu, que l’avia la vida sostenguda tro qu’el l’agues vista; et enaissi el mori entre sos bratz (Boutière: 1973, 16-19; 16).

Und er verliebte sich in die Gräfin von Tripolis, ohne sie je gesehen zu haben, nur ob des Guten, das er Pilger, die aus Antiochia zurückkehrten, von ihr hatte sagen hören. [...] Und weil er sie sehen wollte, nahm er das Kreuz und schiffte sich ein, und auf dem Schiff wurde er krank; und er wurde nach Tripolis in eine Herberge gebracht, wo man ihn für tot hielt. Und man hinterbrachte das der Gräfin und sie ging zu ihm, an sein Bett und nahm ihn in ihre Arme. Und als er hörte, dass sie die Gräfin war, wurde er sofort wieder Herr über seine Sinne und lobte Gott, dass er ihn so lange am Leben gelassen habe, bis er sie gesehen. Und so starb er in ihren Armen. Und sie ließ ihn mit hohen Ehren in der Kirche bestatten und ging selbigen Tags in dem tiefen Schmerz, den sie ob seines Todes empfand, ins Kloster.

  

Viel wichtiger für die Entstehung der vida als mittlerweile nicht mehr nachprüfbare historische Fakten, von denen der anonyme mittelalterliche Biograph noch Kenntnis gehabt haben könnte, ist jedoch Jaufré Rudels Werk. Sein Biograph schöpft aus den sechs erhaltenen sehnsuchtsvollen Liebesliedern von hohem dichterischen Rang, in denen Jaufré Rudel der amor de lonh, den Gefühlen des „aus der Ferne Liebenden“, gleich mehrfach ein bleibendes Denkmal setzt. Das berühmteste unter ihnen ist zweifelsohne Lanquan li jorn son lonc en mai:

  

I

 

 

5

 

 

II

10

 

 

 

 

III 15

 

 

 

 

20

 

IV

 

25

 

 

 

V

30

 

 

 

35

VI

 

 

40

 

 

VII

45

Lanquan li jorn son lonc en mai

M’es bèlhs dous chans d’auzèlhs de lonh,

E quan me sui partitz de lai

Remembra’m d’un amor de lonh:

Vau de talan embroncs e clis

Si que chans ni flors d’albespís

No’m platz plus que l’iverns gelatz.

Be tenc lo Senhor per verai

Per qu’ieu veirai l’amor de lonh;

Mas per un ben que m’en eschai

N’ai dos mals, car tan m’es de lonh.

Ai! quar me fos lai pelegrís,

Si que mos fustz e mos tapís

Fos pels sieus bèlhs uèlhs remiratz!

Be’m parrà jòis quan li querrai,

Per amor Dieu, l’alberc de lonh:

E, s’a lièis platz, albergarai

Près de lièis, si be’m sui de lonh:

Adonc parrà’l parlamens fis

Quan drutz lonhdás er tan vezís

Qu’ab bèls ditz jauzirà solatz.

Iratz e jauzens m’en partrai,

S’ieu ja la vei, l’amor de lonh:

Mas non sai quora la veirai,

Car tròp son nòstras tèrras lonh:

Assatz i a pas e camís,

E per aissò no’n sui devís...

Mas tot sia com a Dieu platz!

Ja mais d’amor no’m jauzirai

Si no’m jau d’est’ amor de lonh,

Que gensor ni melhor no’n sai

Vès nulha part, ni près ni lonh;

Tant es sos prètz verais e fis

Que lai el renh dels Sarrazís

Fos ieu per lièis chaitius clamatz;

Dieus que fetz tot quan ve ni vai

E formèt cest’amor de lonh

Mi don poder, que còr ieu n’ai

Qu’ieu veja cest ’amor de lonh,

Veraiamen, en tals aizís,

Si que la cambra e’l jardís

Mi ressemblès totz temps palatz!

Ver ditz qui m’apèla lechai

Ni desiron d’amor de lonh,

Car nulhs autres jòis tan no’m plai

Com jauzimens d’amor de lonh.

Mas sò qu’ieu vuèlh m’es ataïs,

Qu’enaissí’m fadèt mos pairís

Qu’ieu amès et non fos amatz!

Wenn im Mai die Tage lang sind,

Freut mich der süße Gesang der fernen Vögel.

Und wie ich von dort weggegangen bin,

Erinnere ich mich an eine ferne Liebe:

Ich gehe gramgebeugt dahin,

so dass mir weder Gesang noch Weißdornblüten

besser gefallen als der eisige Winter.

Ich glaube wohl an den Herrn,

darum werde ich die ferne Liebe sehen.

Aber für ein Gutes, das mir daraus erwächst,

habe ich zwei Übel, denn sie ist so fern von mir.

Ach! Wäre ich doch als Pilger dort,

auf dass ihre schönen Augen

meinen Pilgerstab und -umhang sehen könnten.

Es will mir eine große Freude scheinen, von ihr,

um Gottes Liebe willen, eine Herberge in der Ferne zu erbitten:

Und wenn es ihr gefällt, werde ich in ihrer Nähe wohnen,

Von wie weit her ich auch sein mag:

Wie gepflegt die Gespräche dann erscheinen werden,

Wenn der ferne Geliebte so nahe sein wird

Dass er das Vergnügen schöner Worte genießen wird.

Traurig und glücklich werde ich von ihr gehen,

Wenn ich sie sehe, die ferne Liebe:

Aber ich weiß nicht, wann ich sie sehen werde,

Denn unsere Länder sind allzu weit entfernt:

Es gibt so viele Übergänge und Wege,

Und darum kann ich nichts vorhersagen...

Aber alles möge sich fügen, wie es Gott gefällt!

Ich werde niemals Liebesglück genießen,

Wenn es nicht diese ferne Liebe ist,

Denn ich kenne keine Edlere und Bessere,

Nirgendwo, weder nah noch fern;

So groß und wahrhaftig ist ihr Wert,

Dass ich um ihretwillen dort im Reich der Sarazenen

Gerne gefangen genannt werden will.

Möge Gott, der alles Leben erschaffen hat

Und der auch diese ferne Liebe schuf,

Mir Kraft geben, denn den Mut habe ich,

Diese ferne Liebe zu sehen,

Wirklich und wahrhaftig, an solchem Ort,

Wie im Schlafzimmer oder im Garten,

Es wird mir immer wie ein Palast erscheinen!

Wer mich begierig und sehnsuchtsvoll

Nach dieser fernen Liebe nennt, spricht wahr,

Denn nichts erfreut mich so sehr,

Wie der Genuss der fernen Liebe.

Aber was ich will, wird mir verwehrt,

Darum sei der Pate verflucht

Der mich verwünschte, auf dass ich nicht geliebt werde!

(Bec: 1972, 181-185).

  

Diese bereits bei Wilhelm von Aquitanien anklingende amor de lonh, die Liebe aus der Ferne, ist eine Unterform der fin’amor, des komplexen Liebeskonzepts der Trobadors, das ich hier in Kürze und daher in unvermeidlich unbilliger Verkürzung und Schematisierung skizzieren will: Die gesamte Trobadorlyrik, so unterschiedlich die Werke ihrer Vertreter im einzelnen auch sein mögen, lebt aus der beständigen Spannung zwischen Euphorie und Disphorie als kleinstem gemeinsamen Nenner. Erst die permanente Haltung dieser Spannung führt zum Liebesdiskurs und mithin zum Liebeslied, der Trobadorkanzone, als genuines Ausdrucks­mittel dieses Liebeskonzepts. Zur Aufrechterhaltung ihrer inneren Spannung lebt die fin’amor vom Hindernis, das die Liebenden trennt, den Liebenden an der Erfüllung seiner Wünsche hindert und ihn somit zu deren lyrischer Fixierung bewegt. Und dieses Hindernis kann ganz unterschiedlicher Natur sein; die geographische Distanz, die der Sänger zwischen den Liebenden und die geliebte Frau legt, ist dabei nur eine der vielfältigen Möglichkeiten.

Die Abwesenheit der Geliebten wird im Übrigen im Zuge der europäischen Rezeption der Trobadorlyrik – und insbesondere in der italienischen Liebeslyrik – immer weiter stilisiert. So weit, bis schließlich nur noch ihr Tod ihre definitive Unerreichbarkeit zu garantieren vermag: Dantes Beatrice und Petrarcas Laura sind beredte Zeuginnen dieses Schicksals der angebeteten Dame.

Dagegen erscheint die geographische Distanzierung der von Jaufré Rudel besungenen fernen Geliebten noch vergleichsweise harmlos, auch wenn sie für eines der wesentlichen Spannungsmomente der amor de lonh steht. Was die amor de lonh darüber hinaus ebenso wie die fin’amor ins Mythische überhöht, ist ihre wesensmäßige Transzendenz. Die geliebte Frau steht als Chiffre für ein dem Menschen unerreichbares, als erfüllte Liebe gedachtes, irdisches Glück. Der Mythos wird schließlich – gänzlich losgelöst vom nur noch scheinbaren Objekt der Begierde – zur in eine andere Wirklichkeit projizierten Utopie der Liebe und des Glücks, und die Legende Jaufré Rudels macht ihn zu dessen Helden.

Ein kurzer Blick in das französische Mittelalter illustriert in sehr anschaulicher Weise die bereits bei Chrétien de Troyes aufgezeigte Verschiebung der Koordinaten in der Liebeskonzeption von der fin’amor der Trobadors zum amour courtois der Trouvères und zur nordfranzösischen Erzählliteratur. Der Übergang von der langue d’oc in die langue d’oïl bedingt zugleich einen folgenreichen Wandel des grammatischen Geschlechts von weiblich zu männlich – la fin’amour wird zu l’amour courtois – und ihre Personifizierung damit von der irdischen Dame Amour zum göttlichen Dieu d’Amor. Er impliziert praktisch, wie die amor de lonh zum amour de loin wird.

Pierre Bec verdeutlicht in einem grundlegenden Aufsatz die Ausdifferenzierung der amour de lonh in verschiedene Unterformen. Die ferne Geliebte kann nämlich sowohl eine ‚in der Ferne lebende’ als auch eine ‚nie gesehene’ Schöne sein, zu der der Dichter in Liebe entbrennt, weil er – ich nenne dies die ‚Zauberflöten-Variante’ – ein Bild von ihr gesehen hat, oder weil ihm – in der subtileren ‚Pilger-Variante’ – Dritte so viel Gutes über sie berichteten. Die ‚Zauber­flöten-Variante’ habe ich so benannt nach der berühmten Bildnis-Arie in Mozarts Zauberflöte. Vom ersten Blick auf Paminas Bild bis zur Liebeserklärung braucht Tamino in Emanuel Schikaneders Libretto nicht mehr als acht Verse, die so beginnen:

  

Dies Bildnis ist bezaubernd schön

Wie noch kein Auge je gesehn!

Ich fühl’es, wie dies Götterbild

mein Herz mit neuer Regung füllt (Mozart: 1978, 25).

  

So findet diese Variante der fernen Liebe mit der Zauberflöte bereits im späten 18. Jahrhundert schon an zentraler Stelle Eingang in eine Oper.

Ihren Platz in der Literatur findet sie natürlich bereits viel früher, auch wenn Trobadors und Trouvères einhellig die Pilger-Variante Rudelscher Prägung bevorzugen: „Et enamoret se de la comtessa de Tripol, ses vezer, per lo ben qu’el n’auzi dire als pelerins que venguen d’Antiocha“ – „Und er verliebte sich in die Gräfin von Tripolis, ohne sie je gesehen zu haben, nur ob des Guten, das er Pilger, die aus Antiochia zurückkehrten, von ihr hatte sagen hören“. Im Repertoire der Trouvères findet sie sich – durch den an Jaufré Rudels beschwörende Reimformel angelehnten Refrain – in seltener Dichte bei Gontier de Soignies:

  

Je plainderai mon grant anui,

Dolans, mais je ne sai a cui,

Car ainc la belle ne conui

Ne ses privés onques ne fui;

Mais çou ke j’en sai par autrui

M’a si conquis ke ses hom sui.

Grant dolour et grief paine

Trait l’on d’amors lontaigne!

Über meinen großen Kummer will ich klagen!

Aber ich weiß nicht, bei wem;

nie lernte ich die Schöne kennen,

Noch war ich ihr Vertrauter.

Was ich von ihr weiß, weiß ich von Dritten

Und doch hat sie mich als ihren Diener gewonnen

Großen Schmerz und schweren Kummer

Bringt die Liebe aus der Ferne!

(Gonthier de Soignies: 1980, 49, V. 9-16).

  

Es ist diese Variante, die Jean Renart – möglicherweise sogar in Anlehnung an den belgischen Trouvère, den er darin zitiert – für seinen gegen 1228 entstandenen Roman de la rose gewählt hat, den erst die neuere Forschung zur Vermeidung jeglicher Verwechslung mit den Rosenromanen Guillaume de Lorris’ und Jean de Meungs als Roman de Guillaume de Dole bezeichnet. Aufgrund des Guten, das er von den beiden Geschwistern hört, sucht der lebenslustige junge Kaiser Konrad die Freundschaft eines jungen Ritters und verliebt sich unsterblich in dessen Schwester. Ein Spielmann berichtet ihm, dass sie sich mit jeder noch so großen Schönheit des Landes messen kann (V. 744-748), und um Konrad ist es völlig geschehen, als er auch noch ihren Namen erfährt:

  

„[...] Et sa suer, coment a a non,

qui si a bel et gent le cors?

- Sirë, el a non Lïenors,

ce dit li nons de la pucele.“

Amors l’a cuit d’une estencele

de cel biau non mout pres del cuer;

[...]

Cil s’aperçoit mout bien que cele

li plesoit ja par oïr dire

[...].

„Und wie heißt seine Schwester,

die Schöne und Edle?

- Sire, sie heißt Eleonore,

so ist der Name der Jungfrau.“

Der Funke der Liebe erglomm

ob dieses schönen Namens in seinem Herzen.

Der Spielmann bemerkte wohl, dass sie ihm

schon vom Hörensagen gefiel

[...]

(Jean Renart: 1962, V. 789-794 und 805-806.).

  

Bemerkenswert an dieser nordfranzösichen Variante der amor de lonh ist der Name der fernen Liebe, gleichzeitig der Vorname der Leitfigur der courtoisie, Aliénor/Eleonore von Aquitanien, und somit der Inbegriff des amour courtois schlechthin. Im Unterschied zu Jaufré Rudel fordert der Liebende außerdem ganz in der Manier Wilhelms von Aquitanien eine recht ‚handfeste’ Erfüllung seiner Liebe ein, bevor er sich auf den Kreuzzug begibt:

  

Or m’en doint Dex en tel honor monter,

cele ou j’ai mis mon cuer et mon penser

q’entre mes bras la tenisse nuete

ainz q’alasse outremer.

Möge mir Gott solche Ehre erweisen,

dass ich jene, der mein Herz und Sinn gehört

nackt in meinen Armen halten möge,

bevor ich das Kreuz nehme

(Jean Renart: 1962, V. 927-930).

Doch so sehr sich beide Geschichten anfangs auch gleichen mögen: Der Ausgang des altfranzösischen Versromans ist bezeichnenderweise ein ganz anderer. Nach zahlreichen – getreu den Gesetzen der aventure unvermeidlichen – Irrungen und Wirrungen findet der junge Kaiser zu seiner jungfräulichen Geliebten und heiratet sie.

Der Unterschied zwischen dem erotischen Spannungsbogen der trobadoresken fin’amor und der Welt des amour courtois könnte augenfälliger nicht sein: Während jene von der Unüberwindlichkeit der Distanz zwischen den Liebenden lebt, findet diese ihren vollkommensten Ausdruck in der vollen Integration in die höfische Welt im christlichen Sakrament der Ehe.

  

Literatur

  

1. Textausgaben

Appel,Carl, Bernart von Ventadorn. Seine Lie­der, Halle 1915.

Bec, Pierre, Nouvelle Anthologie de la lyrique occitane du Moyen Age, Avignon 21972.

Gontier de Soignies, Il Canzoniere, hrsg. v. Luciano Formisano, Mailand / Neapel 1980.

Riquer, Martín de, Los trovadores. Historia literaria y textos (3 Bde.), Barcelona 1975.

Wallensköld, Axel, Les chansons de Conon de Béthune, Paris 21968 (1921).

Zai, Marie-Claire, Les chansons courtoises de Chrétien de Troyes, Bern / Frankfurt/M. 1974.

  

2. Weitere Quellen

Boutière, Jean et al., Biographies des Trou­badours. Textes provençaux des XIIIe et XIVe siècles, Paris 31973.

Cerquiglini, Jacqueline et al. (Hrsg.), Poètes du Moyen Age, Paris 1987.

Chrétien de Troyes, Lancelot ou le chevalier de la char­rette, in : Œuvres complètes, hrsg. v. Daniel Poirion et al., Paris 1994, 507-682.

Jean Renart, Le roman de la rose ou de Guillaume de Dole, hrsg. v. Félix Lecoy, Paris 1962 (CFMA 91).

Mozart, Wolfgang Amadeus, Die Zauberflöte, hrsg. v. Kurt Pahlen, München 1978.

  

3. Forschung und Kritik

Bec, Pierre, « Troubadours, trouvères et espace Plantagenêt », Cahiers de civilisation médiévale 29 (1984), 9-14.

Bec, Pierre, « La poésie des troubadours et la genèse de la lyrique européenne », in : Les troubadours et l’État toulousain avant la Croisade (1209), hrsg. v. Centre d’Étude de la litterature occitane, Toulouse 1994 (Annales de Littérature Occitane 1), 15-27.

Cerquiglini, Jacqueline et al. (Hrsg.), Poètes du Moyen Age, Paris 1987.

Crubellier, Maurice / Juillard, Charles, Histoire de la Champagne, Paris 1952.

Crubellier, Maurice (Hrsg.), Histoire de la Champagne, Toulouse 1975.

Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age, hrsg. v. Geneviève Hasenohr und Michel Zink, Paris 21992.

Diez, Friedrich, Poesie der Troubadours, Leipzig 21883.

Frank, István, Trouvères et Minnesänger, Saarbrücken 1952.

Gruber, Jörn, Die Dialektik des Trobar. Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung des occitanischen und französischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts, Tübingen 1983.

A Handbook of the Troubadours, hrsg. v. F.R.P. Akehurst und Judith M. Davis, Berkeley 1995 (Publications of the UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies 26).

Lejeune, Rita, « Rôle littéraire d’Aliénor d’Aquitaine et de sa famille. 1. Aliénor », Cultura Neolatina 14 (1954), 5-57.

Lejeune, Rita, « Rôle littéraire d’Aliénor d’Aquitaine et de sa famille. 2 », Cahiers de civilisation médiévale 1 (1958), 319-337.

Nelli, René, Troubadours et trouvères, Paris 1979.

Mc Cash, June Hall Martin, « Marie de Champagne and Eleanor of Aquitain : A relationship reexamined », Speculum 14 (1979), 698-711.

Pernoud, Régine, Aliénor d’Aquitaine, Paris 1965.

Rieger, Angelica, « Relations interculturelles entre troubadours, trouvères et Minnesänger au temps des croisades », in: Anton Touber (Hrsg.), Le Rayonnement des troubadours (1998), 201-225.

Rieger, Angelica, „Singen auf dem Kreuzzug. Über das interkulturelle Netzwerk zwischen Trobadors, Trouvères und Minnesängern“, in: Internationalität nationaler Literaturen. Beiträge zum ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereichs, hrsg. v. Udo Schöning et al., Göttingen. 2000a, 485-500.

Rieger, Angelica, „Gran dezir hai de ben jazer. Die Bettgeschichten der Trobadors“, in: Abkehr von Schönheit und Ideal der Liebeslyrik, hrsg. v. Carolin Fischer und Carola Veit, Stuttgart / Weimar 2000b, 48-65.

Rieger, Angelica, „Amour de loin. Über die Geschicke eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel“, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hrsg. v. Peter Ihring und Laetitia Rimpau, Berlin 2005, 291-312.

Rieger, Angelica, „Structures pornographiques chez Marcabru“, in: Scène, évolution, sort de la langue et de la littérature d’oc. Actes du Septième Congrès International de l’Association Internationale d’Études Occitanes, Reggio Calabria-Messina, 7-13 juillet 2002, hrsg. von Rossana Castano et al., 2 Bde., Roma 2003, 617-627.

Rieger, Angelica, „Trobador-Mythen. Guilhem de Cabestanh und Jaufre Rudel“, in: Mittelaltermythen, hrsg. v. Ulrich Müller und Werner Wunderlich, Bd. 4: Künstler, Dichter, Gelehrte, Konstanz 2005, 487-528.

Rossi, Luciano, « Chrétien de Troyes e i trovatori: Tristan, Linhaura, Carestia », Vox Romanica 46 (1987), 26‑ 62.

Touber, Anton (Hrsg.), Le Rayonnement des troubadours, Amsterdam / Atlanta, GA 1998.

 


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